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Was Big Data in der Forschung zu suchen hat
Die Digitalisierung ist in vollem Gange – auch im Gesundheitswesen. Schlagwörter wie Big Data, E-Health und Artificial Intelligence sind in aller Munde. Was das für die Praxis bzw. die Arzneimittelforschung bedeutet, erläutert Lars Greiffenberg, Director R&D IT and Translational Informatics bei AbbVie Deutschland, im Interview.
Lars, wie können wir die Begriffe Digitalisierung und Big Data in deinem Arbeitsfeld verstehen?
Lars: Wir alle produzieren permanent digitale Informationen – vom Laptop über das Smartphone hin zum Fitnessarmband. Besonders gut kann man die Entwicklung im Bereich E-Health erkennen. Health-Apps und Wearables sind auf dem Vormarsch, die Menschen sind in diesem Bereich bereit, ihre Daten zu teilen, weil sie den Nutzen für sich selbst sehr klar erkennen können.
Big Data ist auch eine absolute Schlüsseltechnologie für uns in der Forschung. Der Begriff steht für die Flut an Daten, die uns inzwischen zur Verfügung steht. Unser klares Ziel ist es, die Daten zu nutzen und dadurch schneller bessere und gezieltere Therapien zu entwickeln.
Wie kann das in der Praxis aussehen?
Lars: Von der frühen Forschung bis zur Zulassung beispielsweise eines Krebsmedikaments können durchaus 20 Jahre vergehen. Diese Zeitspanne wollen wir deutlich verkürzen und hier kann uns die systematische Analyse von Daten helfen. Wir wollen schon in der präklinischen Forschung im Datenmeer relevante Muster erkennen, um schneller Hypothesen abzuleiten, die wir dann gezielt überprüfen können. Wie hängt eine genetische Veranlagung mit der Entstehung von Alzheimer zusammen? Und können wir frühzeitig etwas dagegen tun? Was haben Bluthochdruck und Schuppenflechte miteinander zu tun? Jahrzehntelange medizinische Erfahrung etwa hat die Erkenntnis hervorgebracht, dass Betablocker Schuppenflechte auslösen können. Big Data hätte dies erheblich schneller zutage gefördert.
Ganz im Sinn der personalisierten Medizin möchten wir durch Datenanalyse auch besser verstehen, welches Medikament bei welchem Patienten am besten wirkt und die geringsten Nebenwirkungen aufzeigt – so könnten die Menschen schneller von der Therapie profitieren, die für sie passt.
Arbeiten wir denn heute schon mit den Erkenntnissen, die wir aus Big Data ziehen können?
Lars: Wir arbeiten aktuell mit bereits verfügbaren Daten aus Publikationen oder anonymisierten Patientendaten. Zumeist stammen diese aus anderen europäischen Ländern, die in puncto Digitalisierung bereits weiter sind und in denen es die gesetzlichen Grundlagen erlauben, die eigenen Daten breit der Forschung zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht vorankommen: Die meisten Daten aus klinischen Studien werden veröffentlicht und sind so auch für uns zugänglich und nutzbar. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI arbeiten wir zum Beispiel an der Entwicklung komplexer Algorithmen, die wissenschaftliche Texte für uns durchforsten und daraus gezielt das wertvolle Wissen extrahieren. Damit reagieren wir auf die steigende Anzahl der immer spezielleren wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die für den Forscher alleine kaum noch zu bewältigen ist.
Und wo liegen die Grenzen?
Lars: Bleiben wir bei unserem Beispiel: Die Algorithmen, die wir entwickeln, sind im ersten Schritt sozusagen „naiv“. Unsere Forscher müssen ihnen im Entwicklungsprozess Regeln beibringen, zum Beispiel logische Beziehungen zwischen Worten und Wortketten. Das Wissen und die Erfahrung unserer Wissenschaftler sind also definitiv notwendig, sowohl in der Entwicklung, der Evaluierung als auch in der Auswertung. Eine daraus resultierende gewisse künstliche Intelligenz kann uns helfen, die wichtigsten Erkenntnisse nicht zu übersehen – die Entscheidung daraus etwas zu machen, treffen wir aber noch selbst.
Außerdem sind die Erkenntnisse, die wir aus Daten gewinnen können, nur so gut wie ihre Qualität bzw. müssen Gesundheitsdaten überhaupt erst verfügbar sein. Der politische und strukturelle Rahmen in Deutschland entwickelt sich nur langsam, Stichwort „Gesundheitskarte“. Wenn wir beispielsweise die Daten sowohl von Patienten als auch von gesunden Menschen analysieren und zusammenführen könnten, dann ermöglicht uns das, der Entstehung von Krankheiten auf die Spur zu kommen. Besser noch: Wir können von der Natur lernen, warum Erkrankungen bei einigen Menschen gar nicht erst auftreten und diese Erkenntnisse für die Entwicklung von neuen Medikamenten nutzen.
Wie kann man den Leuten aus deiner Sicht die Angst vor dem „gläsernen Menschen“ nehmen?
Lars: Zuallererst müssen wir die Begeisterung bei den Menschen wecken, indem wir den Blick auf die großen Chancen in der Verbesserung der Gesundheitsversorgung lenken. Bedenken können wir letztlich nur mit Offenheit, Austausch und klaren Datenschutz-Regeln zerstreuen. Wir müssen für mehr Vertrauen werben und den konkreten Nutzen für die Patienten deutlich machen. Mit „wir“ meine ich, dass diese Aufgabe nicht nur uns als Industrie zufällt, sondern auch der Politik, der Gesellschaft und Wissenschaft allgemein. Dann können letztlich alle von der Nutzung dieser Daten profitieren.