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Die Mathematik der Migräne
Eine Milliarde Betroffene. Millionen ausgefallener Arbeitstage. Zahllose versäumte Veranstaltungen. Migräne zieht weite Kreise. Aber Fortschritte in der Versorgung ziehen nach.
Ein gemeinsamer Nenner
Brett Dabruzzos erste Migräne traf sie in ihrer High-School-Zeit. Pochende Kopfschmerzen und unerträgliche Übelkeit wurden erst fast ein Jahrzehnt später als Migräne diagnostiziert, als Dabruzzo, inzwischen Pharm.D., Director, Medical Affairs von AbbVie, ihre Arbeit im Bereich Neurologie eines pharmazeutischen Unternehmens aufnahm. Nach einer Woche in ihrer Position als medizinisch-wissenschaftliche Ansprechpartnerin für Morbus Parkinson, Epilepsie und Migräne erkannte sie die Anzeichen der Migräne und suchte Hilfe. Eine Diagnose der neurologischen Erkrankung bekam sie kurze Zeit später.
Dabruzzo versucht, sich von der Migräne nicht ausbremsen zu lassen – aber manchmal gelingt es ihr nicht, dagegen anzukämpfen. Hockeyspiele ihrer Kinder, denen sie nicht zusehen kann, und abgesagte kinderfreie Abende bringen Enttäuschung und Schuldgefühle mit sich. „Ich habe das Gefühl, ich wäre eine bessere Mutter, wenn ich keine Migräne hätte“, meint Dabruzzo. „Und ich wäre eine bessere Ehefrau, wenn ich keine Migräne hätte.“
Genau wie Dabruzzo ist auch Michael Gold, M.D., Vice President, Neuroscience Development von AbbVie, Migräne nicht fremd. Er ist zwar nicht selbst davon betroffen, erlebt aber immer wieder kräftezehrende Anfälle bei seiner Frau und seinen erwachsenen Kindern mit.

Trotz des Lebens mit Migräne reist Michael Golds Familie – seine Frau Fanny und seine Kinder Alexander und Ariel – gerne. 2019 waren sie im Bryce Canyon National Park unterwegs. Gold erklärt, dass er als Neurologe zwar die Mechanismen der Migräne versteht, aber es für ihn deshalb nicht einfacher ist, mit ansehen zu müssen, wie sich seine Familie, die seit vier Generationen von Migräne betroffen ist, damit quält. „Wir leben damit“, sagt Gold, aber es ist enorm kräftezehrend.“
In seinem beruflichen und persönlichen Umfeld hat Gold den langen Weg beobachtet, den Menschen, die unter Migräne leiden, von den ersten Symptomen bis zur korrekten Diagnose und einem geeigneten Behandlungsplan gehen müssen. Er glaubt, dass Verzögerungen bei der Entscheidung über eine passende Therapie teilweise auch mit einer fehlenden offenen Diskussion über die Symptome zu tun haben.
Einen Unterschied machen
Gold ist der Ansicht, dass es Möglichkeiten gibt, die Migräneversorgung zu verbessern – dass dafür aber Patient*innen, Forscher*innen und Ärzt*innen zusammenarbeiten müssten. Patient*innen sollten befähigt werden, frühe Migränestadien zu erkennen und lernen, mögliche Auslöser zu vermeiden. So könnte ergänzend zur Akutbehandlung frühzeitig mit Vorbeugemaßnahmen gegengesteuert werden. Dabei ist es wichtig, dass die Patient*innen dem Arzt oder der Ärztin nicht nur ihre Symptome mitteilen, sondern auch Fragen stellen, dass diese sich wiederum so mit den Migränesymptomen vertraut machen, dass sie sicher behandeln können, und letztlich natürlich, dass Forscher*innen weiter nach alternativen Behandlungswegen suchen.
Seit Jahrzehnten, so Gold, unterstützt innovative Forschung und die Bereitstellung einer Reihe therapeutischer Optionen Menschen darin, ihre Migräne in den Griff zu bekommen. Entscheidend für eine weitere Verbesserung der Versorgung ist allerdings, die ständig wachsenden Erkenntnissen zur Migräne in der modernen Forschung zu berücksichtigen.
„Wir wollen langfristig ergänzend zu symptomatischen Therapien die Prävention der Erkrankung stärker in den Mittelpunkt rücken“, erläutert Gold. „Dafür wollen wir unsere Erfahrung und Expertise einbringen, sind aber gleichzeitig offen zu lernen und zu verstehen, um neue Therapieoptionen entwickeln zu können.“
Für die Migränebehandlung wünscht sich Dabruzzo, dass Ärzt*innen nicht nur mit medizinischer Versorgung zu einer guten Behandlung beitragen, sondern auch durch empathisches Verhalten. So könnten sich Ärzt*innen stärker in einen belastenden Migränetag hineinfühlen – wenn durch die Schmerzen kein Essen, kein Arbeiten und keine menschliche Interaktion möglich sind – und die Patient*innen vor diesem Hintergrund unterstützen.
Kampf gegen Einschränkungen
Elena Ruiz de la Torre, Migränevertreterin und Geschäftsführerin der European Migraine and Headache Alliance, hat ebenfalls erlebt, wie Migräne alle Lebensbereiche stören kann – auch die Arbeit.
Sie leidet selbst schon seit jungen Jahren an Migräne und berichtet, dass dadurch nicht nur Aufgaben in ihrer Position behindert, sondern auch berufliche Chancen vereitelt wurden. So geschehen, als sie nicht zu einem Vorstellungsgespräch gehen konnte, weil sie durch einen Migräneanfall krank und ans Bett gefesselt war. Sie rief das Unternehmen an, erklärte, dass sie Migräne habe, und bat darum, den Termin zu verschieben. Das Unternehmen lehnte ab.
Ruiz de la Torre ist kein Einzelfall, wenn es um negative Erfahrungen am Arbeitsplatz wegen Migräne geht. Laut einer EMHA-Studie aus dem Jahr 2019, in der untersucht wurde, wie sich Migräne auf das Arbeitsleben europäischer Patient*innen auswirkte, gaben fast 42 % der Befragten (N = 3.342) an, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung Schwierigkeiten in ihrer Firma hätten, während nur etwa 30 % der Arbeitnehmer*innen berichteten, dass die Migräne die Arbeitsproduktivität nicht beeinträchtigte.1

Ein größeres Verständnis dafür, wie sich Migräne auf Menschen auswirkt – nicht nur am Arbeitsplatz, sondern überall – könnte, so Ruiz de la Torre, das Stigma bekämpfen und Hoffnung für die Betroffenen bringen. „Wir sollten für Migräne nicht an den Pranger gestellt werden“, sagt Ruiz de la Torre. „Deshalb engagiere ich mich, damit Menschen mit Migräne künftig ein leichteres Leben haben können als ich.“
Mehr zu Migräne und chronischer Migräne gibt es hier: www.chronischemigraene.de
Literatur:
- Ruiz de la Torre ER et al. Migraine at work: European survey. Analysis of results and conclusions. European Migraine and Headache Alliance, 341. (2019). https://www.emhalliance.org/wp-content/uploads/EMHA-Migraine-at-work.pdf. Letzter Zugriff: 19.08.2021.